Bauwelt 12.2020
Waldwanderung. Eine Enkelin und ihr Großvater
Von Jan Friedrich

Review

Die Berliner Architekturgalerien haben nach der Zwangspause den Ausstellungs­betrieb wiederaufgenommen. Das Aedes Architekturforum zeigt Junya Ishigamis wundersamen Water Garden. In der Architektur Galerie Berlin setzt sich Natascha Paulick mit Werk und Leben ihres Großvaters Richard Paulick auseinander.

Bäumchen wechselt euch

Ein wundervoll gewachsener Hochwald in einem Feuchtgebiet aus weit verzweigten Wasserläufen und Tümpeln, der Boden mit frischem, sattgrünem Moos bedeckt. Botanisch Bewanderte können vier verschiedene Baumarten ausmachen: Eichen, Kerb-Buchen, Fächerahorn, Tschonos­­kis Hainbuchen. Mit Trittsteinen haben sich die Menschen einen trockenen Fußes passierbaren Weg durch dieses verwunschene Stückchen urwüchsiger Natur gebahnt.
Urwüchsige Natur? Wer sich mit Pflanzen so gut auskennt, dass er die vier Baumarten benennen kann, muss auf der Stelle misstrauisch werden. Keine von ihnen wächst in Feuchtgebieten. Wie geht das also? Alles hier – das Wasser, das Moos, die Bäume – ist nicht auf natürliche Weise zusammengekommen, das gesamte Arrangement wurde vom Menschen erdacht und geschaffen, vom japanischen Architekten Junya Ishigami. Einen Eindruck vom sogenannten Water Garden in der nördlich von Tokio gelegenen Präfektur Tochigi und Informationen zu den Hintergründen des Projekts erhält man derzeit im Aedes Architekturforum in Berlin. Anlass für die Ausstellung dort ist die Vergabe des Obel Awards 2019, eines von der dänischen Henrik Frode Obel Founda­tion erstmalig ausgelobten Architekturpreises, an Junya Ishigami für diesen einzigartigen Park.

Fotos, Pläne, Zeichnungen und eine Reihe von Videos erläutern Planung und Bau des Water Garden. Ausgangspunkt war die projektierte Erweiterung eines Hotelareals in ein angrenzendes Waldstück hinein. Junya Ishigami schlug vor, den Wald nicht abzuholzen, sondern die Bäume auszugraben und auf einer unweit gelegenen Wiese, einem brach gefallenen Reisfeld, neu zu arrangieren. Dafür hat er jeden einzelnen der Bäume aufgenommen, exakt vermessen und katalogisiert. 318 wählte er schließlich für den Water Garden aus. Das erhaltene Bewässerungssystem auf dem ehemaligen Reisfeld, dem neuen Standort der Bäume, wurde reaktiviert, ergänzt und speist nun die Teiche des Parks. Die wunderbaren Detailschnittzeichnungen der Bewässerungsanlage lüften auch das Geheimnis, wie es hier ausnahmsweise gelang Eichen, Ahorn und Buchen in einem Feuchtgebiet gedeihen zu lassen: Anders als es scheint, stehen die Bäume gar nicht unmittelbar im Wasser, sondern auf unzähligen Inselchen, quasi im Trocknen.

Ishigamis Landschaftspark wirft zahllose Fragen auf, etwa zum Verhältnis zwischen natürlich und künstlich, zum Umgang des Menschen mit der Natur – und letztlich auch zur Angemessenheit eines solchen Eingriffs. Den naheliegenden Einwand, warum man sich nicht entschied, das Hotel auf die Wiese zu erweitern und den bestehenden Wald zu belassen wie der war, statt ihn aufwendig auf eben diese Wiese umzusetzen, vermag auch das Material der Ausstellung nicht zu entkräften. Nun, vielleicht vermag es das doch: Vielleicht ist in diesem besonderen Fall das Ergebnis, für dessen leibhaftige Besichtigung man den nächstmöglichen Flieger nach Japan nehmen möchte, als Rechtfertigung dieser seltsamen Vorgehensweise mehr als ausreichend.

Enkelin trifft Großvater

Zwar sind in der gegenwärtigen Ausstellung der Architektur Galerie Berlin vor allem Fotos zu sehen – Fotos, die Architektur zeigen. Aber klassische Architekturfotografie, in der die Architektur stets die Hauptrolle, oft sogar ein Solo spielt, sind die Arbeiten der Fotografin und Schauspielerin Natascha Paulick nicht. Sie präsentiert eine aktuelle Auswahl aus ihrer Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk ihres Großvaters, des Architekten Richard Paulick (1903–1979.

All ihre Fotografien zeigen Bauten von Richard Paulick – die beiden Wohnblocks, die er für die Berliner Stalinallee (später Karl-Marx-Allee) entwarf, und Hochhäuser in Halle-Neustadt, dessen Chefarchitekt er war. Aber seine Architektur ist immer nur als Aus- oder im Anschnitt zu sehen, ist mal Mitspieler in atmosphärischen Arrangements, mal Ausgangsmaterial für bemerkenswerte Details, mal Bühne für städtisches Leben, manchmal alles zusammen. Genaugenommen spielt Architektur hier exakt die Rolle, die ihr in Wahrheit auch im wirklichen Leben zukommt, wenn man einmal den eingeengten Blick von Architekten auf Architektur beiseite lässt.
Persönlich erlebt hat Natascha Paulick den Großvater nur in ihrer Kindheit, sie war neun, als er starb. Die Auseinandersetzung mit seinem Werk aber wurde ganz unmittelbar persönlich, als sie 1993, nach dem Tod ihrer Großmutter, die Dachgeschosswohnung bezog, die Richard Paulick für sich auf Block C Nord der Karl-Marx-Allee hatte bauen und ausstatten können. Vor einigen Jahren dann musste sie einen langen – letztlich erfolgreichen – Kampf gegen die Eigentümer des Gebäudes führen, um eine Moder­nisierung der Wohnung zu verhindern, die den größten Teil der Originalsubstanz zerstört hätte.

Die Wohnung selbst ist auch Teil der sehenswerten Ausstellung, und zwar in Form von Richard Paulicks Schreibtisch, der für einige Wochen die Straßenseite gewechselt hat, ins Erdgeschoss von Block D Süd, in dem die Architektur Galerie Berlin zuhause ist. Auf dem Tisch liegen bisher unveröffentlichte Briefe aus dem Nachlass des Architekten (u.a. von und an Walter Gropius und Xanti Schawinsky) aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Paulick sein Shanghaier Exil eigentlich Richtung USA verlassen wollte und er, nachdem dieser Plan gescheitert war, sich entschloss, stattdessen nach Deutschland, in die junge DDR, zurückzukehren.