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Architektur Galerie Berlin

Bauwelt online Was ist eine Straße? Vogt Landschaftsarchitekten inszenieren Ergebnisse ihrer Stadt-Erforschungen

Jan Friedrich

Die Bahnhofstrasse in Zürich, die Whitechappel Road in London, die Avenue des Champs-Élisées in Paris, die Karl-Marx-Allee in Berlin. Was genau ist es eigentlich, das diese vier Straßen in vier europäischen Metropolen so unterschiedlich macht? Was macht, ganz generell, das Wesen einer Straße aus? Für die meisten Architekten ist die Antwort klar: Die begleitende Bebauung, die eine Straße räumlich fasst und sie so überhaupt erst zu einem Stadtraum werden lässt, prägt sie am stärksten. Aber stimmt das wirklich? Sind es nicht andere Faktoren, die gar nicht so offensichtlich sind wie Architektur?

„Die unsichtbare Straße“ heißt die Ausstellung von Vogt Landschaftsarchitekten in der Architektur Galerie Berlin, die sich genau dem Teil des Phänomens Straße widmet, den man nicht auf den ersten Blick sieht. Und vielleicht gar nicht sehen kann. Sondern nur hören. Von dem man wissen muss. Oder zwar nicht weiß, aber spürt, dass er irgendwie mitschwingt. Die Ausstellung führt das mit einige wenigen Exponaten vor, die, wer die Galerie betritt, zunächst nicht sehen kann. Die Schaustücke sind in einer Reihe von Abteilen hinter Vorhängen versteckt. Um sie zu betrachten, muss man durch Gucklöcher schauen, die in den schneeweißen Stoff geschnitten wurden.

Die Installation lässt im Galerieraum eine seltsame Straßenkreuzung entstehen, an der die Bahnhofstrasse die Whitechapel Road und die Champs-Élisées quert. Wo bleibt die Karl-Marx-Allee? Selbstverständlich draußen vor der Tür. Wer sich die vergnügliche Mühe macht nachzusehen, was sich alles hinter den Vorhängen verbirgt, bekommt bald eine Ahnung davon, welche Dinge den Charakter einer Straße wirklich prägen. Ihre nicht-menschlichen Bewohner zum Beispiel, das können Wildschwein und Marder sein (Berlin), Dachs und Taube (Paris) oder der Fuchs (London). Ihre völlig unterschiedlichen städtebaulichen Entwicklungen über die Jahrhunderte, die anhand von Schwarzplan-Überblendungen dargestellt sind. Sie zeigen, dass manche Orte sich kontinuierlich verdichten (Paris, Zürich), andere mal dichter, mal wieder aufgelockerter und dann wieder dichter werden (London), wieder andere zwischenzeitlich ganz zu verschwinden scheinen, um dann, völlig anders, neu zu entstehen (Berlin).

Mikroorganismen aus der Umgebungsluft werden sichtbar gemacht. Wichtige Stadtbäume wie Linde (Berlin) oder Platane (Paris) sind als Rindenabdruck präsent. Ein Bohrkern aus dunklem Asphalt (Zürich) lenkt die Aufmerksamkeit auf den Untergrund einer Straße. Und dass einige Straßen sich erst im Laufe der Zeit zu Verkehrsschneisen entwickelten, während andere es offensichtlich schon immer waren, legen historische Fotos der Avenue des Champs-Élisées nahe, die in jedem Jahrzehnt vollgestopft mit Fahrzeugen ist, seien es nun Pferdekutschen, Motorkutschen, Fahrräder oder SUVs.
Um die verschiedenen Straßen zu hören, muss man natürlich nicht hinter die Vorhänge schauen – das lässt sich beim „Flanieren“ durch diese seltsamen Straßenschluchten erledigen. Man wird in der Ausstellung nicht etwa mit unterschiedlich geartetem Straßenlärm belästigt, sondern hört Interviews mit Passanten zu unterschiedlichen Tageszeiten: den Menschen, die diese Straßen prägen. Wie sehr sie das allein schon akustisch tun, ist selten so eindrücklich vorgeführt worden wie hier. Mal abgesehen von Touristen, die sich in allen vier Städten in den unterschiedlichsten Akzenten des Englischen abmühen, wird unzweifelhaft deutlich, dass den Charakter einer Straße, einer Stadt überhaupt, vor allem die Sprache prägt, die dort gesprochen wird: Menschen, die Berlinerisch, Züri-Deutsch, Französisch oder Englisch sprechen, wirken im unmittelbaren Vergleich wesentlich unterschiedlicher, als es verschiedene Architekturen in Europa je sein können.